Bei der Restaurierung der evangelisch-reformierten Kirche in Spreitenbach in den Jahren 1995/96 wurden Fragmente eines Tafelbildes aus dem späten 15. Jh., frühen 16. Jh. entdeckt. Das Tafelbild wurde vermutlich im Zuge der Reformation von 1529 in vier Teile zersägt und als sogenannte «Spolienbretter» für die Bodenverkleidung des Treppenaufgangs zum Estrich wiederverwendet. Nach erfolgter Restaurierung und einer späteren Zwischenlagerung bei der Kantonalen Denkmalpflege in Aarau fanden die bedeutenden Fragmente Ende 2022 als Schenkung der Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde von Spreitenbach-Killwangen Eingang in die Sammlung Museum Aargau.
Von den vier Holzfragmenten lassen sich jeweils zwei zusammensetzen, so dass sich inhaltlich zwei hochrechteckige Teilstücke eines Bildes ergeben. Aufgrund der jahrelangen Nutzung als Treppenstufen weisen die Fragmente zahlreiche Holzausbrüche und Risse auf, so dass eine inhaltliche Deutung erschwert ist.
Die erste Tafel (links auf der Abb.) zeigt am linken Rand eine vor einer Heiligenschar stehende Frauengestalt mit rotem Haarband und hellblonden Haaren. Sofern die Hand mit dem Schwert zur Figur gehört, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um die Darstellung der heiligen Katharina handelt. In der Mitte derselben Tafel ist eine Figur mit einem Kelch zu erkennen. Sie trägt eine grüne Dalmatika (Obergewand) mit goldenen Säumen, wobei darunter der rechte Ärmel der Alba (Untergewand) zu erkennen ist. Folglich handelt es sich wohl um einen heiligen Diakon, vermutlich Laurentius, Stephanus oder Vinzenz. Im oberen Bereich befindet sich ein Engel mit einem Kranz, der wohl als Märtyrerkrone zu deuten ist.
Im Zentrum der zweiten Tafel (rechts auf der Abb.) befindet sich ein Abt, der aufgrund seiner Attribute und des Wappenschildes (vermutlich sog. Bernhardswappen) im Vordergrund als heiliger Bernhard von Clairvaux (1090, Fontaine-lès-Dijon – 1153, Kloster Clairvaux) zu deuten ist: Die Darstellung des Bernhard von Clairvaux erscheint in diesem Zusammenhang plausibel, da Spreitenbach in der Entstehungszeit des Altarretabels von der Zisterzienser-Abtei Wettingen abhängig war. Im oberen Bereich öffnet sich zwischen den Wolken ein Spalt mit drei rötlichen Cherubim sowie einem Bogensegment mit einem darüber fallenden roten Stoff: Es liegt die Vermutung nahe, dass es sich hier ursprünglich um eine Darstellung des Jüngsten Gerichts handelt. Demzufolge können die kleinen nackten Figuren im Bildvordergrund als Auferstehende gedeutet werden.
Es ist anzunehmen, dass das bedeutende Werk von einem Künstler aus der Region geschaffen wurde, vermutlich von einem Künstler, der im späten 15. Jh./frühen 16. Jh. für das Kloster Wettingen tätig war wie zum Beispiel Hans Leu der Jüngere, Conrad Wirz oder Hans Funk.
Die Altarretabelfragmente von Spreitenbach sind ein eindrückliches Zeugnis eines hohen theologischen und künstlerischen Anspruchs der Kirche von Spreitenbach, welcher seine Wurzeln in der Zisterzienser-Abtei Wettingen findet. Sie sind weiter ein beredtes Zeugnis der reformatorischen Unruhen um 1529 im Aargau, welche eine heute nur noch schwer nachvollziehbare «Umnutzung» des Altarretabels zur Folge hatte.
Rudolf Velhagen, Chefkurator Sammlung und Ausstellungen Museum Aargau.