Die Jens-Nielsen-Kolumne
Überraschend reise ich nach Buenos Aires. War das gestern? Nein, ein wenig länger her. Eines Abends komme ich aber zufällig an einen Ort, wo Milonga getanzt wird. Das ist eine Unterart des Tangos, lerne ich, unpathetisch, ruhiger, und auf eine feine Art intim, mit weniger Figuren als im Tango. Hierher kommen junge Leute gegen elf Uhr abends – nach der Arbeit, lerne ich. Sie haben Extraschuhe mit. Und tanzen bis um zwei, um drei Uhr früh. Immer wieder wechseln die Paare, man fordert sich in freier Wahl zum Tanz auf. Das heisst, es ist schon oft der Mann, der eine Frau fragt, muss aber nicht sein. Wenn die Paare tanzen, sich an einer Wange leicht berührend, sieht es aus, als seien sie auf einer sorgfältigen Suche nach etwas sehr Begehrenswertem, das aber schwer zu finden ist. Irgendwann, spät abends, hören plötzlich alle auf mit Tanzen, setzen sich im Kreis am Boden. Und es tritt ein junges Paar alleine auf, das noch einmal viel besser tanzt als alle anderen, locker und mit einer so beraubenden Genauigkeit, dass es ganz wunderbar ist. Applaus bekommen die beiden und Ausrufe der Anerkennung und Bewunderung, wenn sie etwas Zauberhaftes tanzen. Dabei fällt mir auf, dass ich das gar nicht sehen kann, diesen genauen Grund jeweils für den Applaus und die Begeisterung. Ich staune und bin still, in einer Ecke, wo mich niemand sieht, so hoffe ich, ich aber etwas sehen kann. Endlose Ausbrüche an barer Schönheit leuchten mir an diesem Abend auf. Mir, dem Ausländer im Saal, dem Nichttänzer. Zum Lernen geht man woanders hin, es gibt hier ganze Hochhäuser voll Tanzschulen. Ich reise lieber ab.
Jens Nielsen wollte ursprünglich die Hundeschule besuchen, wurde dann aber Schauspieler und Autor. Er ist Mitglied der Musikformation SEN-Trio mit Ulrike Andersen und Hans Adolfsen und arbeitet regelmässig für SRF2 Kultur. Einige seiner Vergehen sind hier aufgeführt: www.jens-nielsen.ch